Rezension für Regina Scheer (RS) „Bittere Brunnen -Hertha Gordon-Walcher und der Traum von der Revolution“ Penguin 2023
Was für ein Buch!
Mit „Bittere Brunnen“ gewann Regina Scheer den Sachbuchpreis der Leipziger Buchmesse 2023.
Es ist ein Geschichtsbuch mit Geschichten. „Tante Hertha“ hatte RS schon viel aus ihrem Leben erzählt, aber mitschreiben durfte sie nicht. Hinterher machte sie sich Notizen. Hertha, die Sekretärin von Clara Zetkin war, Lenin und die Krupskaja kannte, Geheimdokumente unter falschem Namen nach Moskau gebracht hatte, wollte im Hintergrund bleiben.
Warum? Sie hatte doch mit hochgeachteten Revolutionären zusammengearbeitet! RS macht klar, wie gefährlich es sein konnte, in der KPD oder später in der SED, Vorstellungen umsetzen zu wollen, die vom Kurs Stalins oder Ulbrichts abwichen. Sie und ihr Ehemann Jacob Walcher, Gründungsmitglied der KPD-O, gaben nie ihr Ziel auf, für eine bessere menschliche Gesellschaft zu kämpfen, selbst wenn sie in den Augen eifersüchtiger Eiferer zu Abtrünnigen wurden. Stalin hatte erreicht, dass durch Schauprozesse und Erschießungen Misstrauen und Verrat den Ton angaben.
Der Revolutionär konnte zum Feind des Revolutionärs werden. Nach Faschismus, Krieg und Exil in den USA glaubten die Walchers an den reinen Neubeginn in der DDR. Was sie erleben mussten, hätte sie entmutigen müssen, denn ehrliche Genossen wurden zu Feinden des Sozialismus gestempelt, ins Gefängnis gesteckt oder spät rehabilitiert.
Die Walchers waren Freunde von Bertolt Brecht. Mit ihm konnten sie über politische Prozesse offen sprechen, mit führenden Politikern der DDR nicht. Über die gesellschaftlichen Verwerfungen in der DDR, die teils bis zur Wende reichten, erzählt RS detailreich und lebendig. RS verdeutlicht, wie das Machtstreben der Parteioberen oft Vorrang hatte vor dem politischen Ziel. Charismatische Politiker wie Willy Brandt erlebten sie kaum noch. RS erzählt von bewegenden Einzelschicksalen, von großen Hoffnungen, mit denen Menschen nach 1945 im Osten Deutschlands antraten, die aus den Fehlern der Vergangenheit lernen wollten. Und doch bekam die Utopie von einer menschenwürdigen Gesellschaft unerwartet Risse. Bürokratisierung und Dogmatismus führten zu einer Politik, die nicht dem Willen des Volkes entsprach.
Es ist das Verdienst von RS, die Erinnerungen ehrlicher Kämpfer aufgeschrieben zu haben. So fallen sie nicht der Vergessenheit anheim und öffnen uns die Augen. Ein Jahrhundertbuch! (1998 Zeichen)
Liane Römer, Pinnow, 22.05.23
Liane Römer
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